Montag, 24. Juni 2019

Beim Anblick eines Dinos




Ich bin gezwungen, den Samstagabend in der Notaufnahme zu verbringen. Sohn Nils hat sich bei einem Familienbesuch das Hoverboard seines Neffen ausgeliehen und einen beeindruckenden Stunt gedreht. Nun sitzen wir zwischen seufzenden und stöhnenden Menschen mit dicken Armen, aufgeschlitzten Knien und fiebrigen Stirnen. Durch das lange Warten und die Sorgen um die Wunden bilden wir eine gemeinsame Gruppe. Jeder Neuzugang wird aufmerksam angeschaut.
Zu später Stunde kommt eine junge Mutter mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Er trägt keine Schuhe und alle Blicke richten sich entsetzt auf den großen Zeh, der blutig und zerquetscht aussieht. Der Zehnagel befindet sich an einer Stelle, an der er nicht sein dürfte. Der Junge versucht, die aufsteigende Panik immer wieder zu unterdrücken.
„Nicht hingucken, nicht hingucken“, murmelt er wie ein Mantra. Gleichzeitig hält er die Hand vor die Augen, spreizt die Finger und blinzelt verzweifelt zu uns hinüber. Die Mutter drückt ihn an sich. 
„Es gibt hier ein paar schöne Bücher“, sage ich zu dem Jungen. Ich bin schließlich schon zwei Stunden hier und kenne mich aus.
Die Mutter ist erleichtert, geht in die Kinderecke und kommt mit einem Dinobuch zurück. Dann beginnt sie zu lesen. Wir sehen, wie sich die Aufmerksamkeit des Jungen gespannt auf das Buch richtet. Auch wir lauschen der Geschichte. Was ist denn schon ein lächerlicher Schmerz, wenn man direkt in das aufgerissene Maul eines Dinos blickt. 

Dienstag, 18. Juni 2019

Weizensommer


Wir haben in einer Vorstellungsrunde die Aufgabe, den Weizen zu nehmen und zu sagen, woran er uns erinnert. Die Runde soll kurz sein. Wir haben schließlich Hunger, und das Essen riecht gut.
Doch da ist dieser eine, der sich an einen ganz besonderen Sommer erinnert. Es war das Jahr 1949. Seine Eltern – selbstständige Landwirte der DDR– werden immer wieder bedrängt, in die LPG einzutreten. Sie weigern sich standhaft, auch als die Propagandisten immer radikaler werden. Mit Lautsprechern werden sie bedrängt, zur Kollektivierung der Landwirtschaft beizutragen. Zunächst werden die Namen derer lobend erwähnt, die sich solidarisch zeigen. Dann werden die Namen genannt, die sich immer noch weigern. Zuletzt ist es nur noch ein Name, der gezielt gerufen wird. Es ist ihr Name. Irgendwann sind sie mürbe und geben auf.
Ihr Land wird in die LPG eingeführt, ebenso die Tiere. Die Pferde werden zur Schlachtbank geführt. Pferde braucht man nicht mehr, denn die neuen Landmaschinen aus der Sowjetunion werden in den nächsten Tagen kommen. Die Familie weint. Die Pferde sind ihnen ans Herz gewachsen.
Dann kommt der Sommer. Das Getreide ist reif. Nur die Maschinen sind nicht da. Das ist der Sommer, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben das Getreide mit der Hand sensen muss. Er, seine Eltern, das ganze Dorf. Er ist 10 Jahre alt. Der Sommer bleibt unvergessen.

Sonntag, 16. Juni 2019

Ein Tag in der Natur



„Weißt du was? Ich habe gestern einen Schachbrettfalter gesehen.“
„Tatsächlich? Das gibt es doch gar nicht.“
Die Augen der beiden Männer leuchten, wie bei einem Kind, das unter dem Weihnachtsbaum steht. Ich weiß mittlerweile, dass sie über Schmetterlinge reden, denn sie streifen durch die Natur, bestimmen Pflanzen und Schmetterlinge und achten auf die Vogelstimmen. Und ich bin mittendrin – ich, die ein bisschen Mühe hat, ein Rotkehlchen von einem Rotschwänzchen zu unterscheiden, die gerade mal einen Zitronenfalter erkennt und die noch nie so wirklich eine Fledermaus gesehen hat. Aber das will ich endlich ändern. Darum habe ich mich beim Tag der Natur angemeldet und lande in diesem wunderschönen Haus der Naju, dem Naturschutzhaus der Jugend Brandenburgs, mitten in der Wildnis des Spreewaldes. 

Das Haus der Naju ist wunderschön

Mittags ist der Tisch toll gedeckt

Viel Wald umgibt das Haus, aber auch die Spree und ein See sind in der Nähe. Mit kleinen Gruppen geht es immer wieder an verschiedene Stellen der Gegend, an Feuchtgebiete, trockne Landstriche, aber auch auf das Wasser. Natur zum Anfassen eben. 
Ein Fledermauspuzzle wird gelegt
Im Fledermauskasten gibt es Junge

Vorsichtiger Kontakt mit einer Fledermaus

Schöllkraut ist gut gegen Warzen

Wer mag, darf die Natur auf dem Wasser erkunden

Ein Perlmuttfalter glänzt an der Unterseite wunderschön

Ich bin beeindruckt von dem großen Wissen der anderen, und ich lerne so unendlich viel. Sogar eine Fledermaus darf ich streicheln. Gleichzeitig aber wird mir bewusst, wie viel ich nicht weiß, und wie unendlich groß und beeindruckend die Natur ist.  
Den Tag werde ich sicherlich nicht so schnell vergessen.


Freitag, 14. Juni 2019

Adresse verbummelt



Meine Schülerpost ist mir wichtig, und ich beantworte nach wie vor jeden Brief. Zu diesen Briefen auf dem Foto ist mir allerdings etwas sehr unangenehmes passiert. Ich habe den Briefumschlag versehentlich verbummelt. Im Brief gibt es leider keinerlei Hinweis auf einen Ort oder eine Schule, sodass ich keinen Ansatzpunkt habe, die Adresse heraus zu finden. Ich kann nur sagen, dass die Schüler „Ben bei den Piraten“ gelesen haben, und die Kinder so schöne Namen wie Hanna, Elias, Amares oder Noelie haben. Wenn ihr zufällig diesen Post lest, bitte meldet euch doch noch mal bei mir. Ich antworte auch sofort!

Dienstag, 11. Juni 2019

Geburtstag



Am 9. Juni hatte ich Geburtstag. An diesem Tag war es wieder mal unglaublich heiß, wie auch gefühlt an sehr vielen meiner Geburtstage. Ich hoffe nicht, dass sich das im Alter mit diesem Gefühl von „Früher war alles besser und schöner“ verschoben hat, aber ich erinnere mich nur an Feiern bei schönem Wetter. Außerdem bilde ich mir ein, dass dieser Tag besonders häufig auf ein Wochenende oder einen Feiertag fällt, aber das ist sicherlich eine Erinnerungsschwäche. Statistisch gesehen kann es ja nicht stimmen. In diesem Jahr aber traf es gleich doppelt zu. Ich hatte an einem Sonntag Geburtstag, und es war auch noch Pfingsten.
Leider war dieses Zusammentreffen von Sonn- und Feiertag für mich das Geburtstags-Out, denn die Pfingsttage gehören zu den arbeitsintensivsten Tagen auf einem Campingplatz. Ich hatte unendlich viel zu tun – und das, obwohl ich keine Silbe geschrieben hatte
Ein nettes Kompliment kriegte ich abends am Telefon von Sohn 2. „Ich war mir etwas unsicher, ob du heute oder morgen Geburtstag hast“, meinte er. „Aber ich habe es bei Wikipedia nachgeschlagen.“
Haaaa, das ist doch mal eine Ansage!  

Donnerstag, 6. Juni 2019

Keine Alternative



„Muddi, willst du nicht am Donnerstag mal so richtig schick shoppen gehen?“
Wenn Söhne so was fragen, ist Misstrauen angesagt. Ich erfahre schnell den eigentlichen Grund. Ich soll nämlich den Shuttle zum Polenmarkt fahren.
Hier auf unserem Campingplatz bieten wir den Gästen einen Shuttle zu verschiedenen Orten an. Oft übernehme ich diese Fahrten. Den Polenmarkt fahre ich allerdings nicht sehr gerne an. Das liegt daran, dass diese Entfernung zu groß ist, um in der Zwischenzeit wieder zurück zu fahren und man darum gezwungen ist, bis nachmittags auf dem Markt abzuhängen.
Sohnemann hat „leider“ keine Zeit für den Shuttle, und ich erfahre kurze Zeit später auch den Grund dafür: Robert Habeck kommt nämlich in das kleine brandenburgische Dörfchen, an den der Campingplatz grenzt, um sich über die strukturschwachen Gebiete Brandenburgs zu informieren. Ja, ihr habt richtig gelesen: Robert Habeck, der George Cloony unter den Politikern, kommt zu uns! Jetzt drehe ich echt am Rad. Warum kann ich nicht mit diesem Mann durch das Dorf spazieren? Ich hätte auch eine Menge zu erzählen. Aber nein! Wenn es hart auf hart kommt, werde ich zum Shuttle auf den Polenmarkt verdammt.
Ich drohe Sohnemann an, dass ich mich dort mit einem Elektroschocker und diversen anderen Waffen eindecken werde. Er nimmt es billigend in Kauf.
Auf dem Polenmarkt fällt mir ein, dass ich ja ein friedlicher Mensch bin und dass Gewalt ja auch keine Lösung ist, seufz, kaufe ein paar T-Shirts und ertrage es, dass das Leben wieder mal ungerecht ist!

Montag, 3. Juni 2019

Lesen, lesen


Ich habe abends Babysitterdienst. Nach einem langen Tag am See hängen die Enkelkinder nun müde vor der Glotze ab. Erleichtert öffne ich meinen E-Book-Reader und lese.
„Was machst du?“, fragt mich Clara.
„Ich lese ein Buch“, erkläre ich.
Sie beobachtet mich kritisch. „Und warum bewegen sich dann deine Lippen nicht?“, fragt sie.