Ich verbrachte meine Sommerferien oft bei
meiner Großmutter. Meine Oma war eher unordentlich und unorganisiert,
und ich fand ihr Chaos immer wundervoll. Sie ließ mich einfach in Ruhe. Ich
spielte in ihrem großen Garten oder stromerte durch die Nachbarschaft. Wir
machten ein Feuer im Garten und legten Kartoffeln hinein. Einmal fand ich einen
Vogel, der aus dem Nest gefallen war, und natürlich durfte ich ihn bei ihr
aufziehen.
Eines Tages fand ich bei meiner Großmutter
einen Groschenroman. Ich verschlang die Geschichte – eine Liebesbeziehung, die
erst so romantisch begann und dann so tragisch endete, und zuletzt, als ich schon alles verloren glaubte – haltet euch fest –
traf die Protagonistin die Liebe ihrer
Kindheit wieder und ging mit ihm eine neue Beziehung ein. Was für ein
unglaublicher Zufall! Niemals hätte ich das für möglich gehalten.
Ich las den Roman mehrere Male. Zum Abschied
schenkte meine Großmutter ihn mir. Ich versteckte ihn in meinem Nachtisch und
las ihn immer mal wieder – bis zu dem Tag, an dem meine Mutter plötzlich in
meinem Zimmer stand. In aller Hektik versteckte ich den Roman unter meiner
Bettdecke. Wir hatten zu Hause nie über Groschenromane gesprochen, doch
irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Mutter würde diese Art von Literatur
nicht gut finden. Natürlich wollte meine Mutter nun wissen, was ich unter der
Bettdecke vor ihr verborgen hielt, und es blieb mir nichts anders übrig, als ihn zu
zeigen. Sie war fassungslos. Auf der Stelle wollte sie wissen, von wem ich
dieses Schundheftchen bekommen hatte, und als ich ihr sagte, ich hätte es von meiner
Oma bekommen, schnappte sie nach Luft und wusste nicht zu wechseln. Sie konnte
ja schlecht auf meine Oma schimpfen. Mit dem Heftchen in der Hand wanderte sie
zu meinem Vater. Die beiden diskutierten eine Weile hin und her. Mein Vater fand
das alles nicht so schlimm, und so gab mir meine Mutter den Roman mit spitzen
Fingern und der Bemerkung zurück, das wäre die geistloseste Literatur, die sie
sich vorstellen könnte. Dabei kannte sie meinen Roman doch gar nicht!
Okay, damit war klar, dass ich den Roman
nicht wieder las. Der Spaß war mir einfach vergangen.
Später aber schrieb ich selbst einen Liebesroman für
eine Freundin, die Groschenromane über alles liebte. Ich erlebte zu der Zeit
meine erste Emanzipationswelle, und so
handelte mein Roman von einer jungen Baronin von und zu irgendwas, die sich aus
ihrem goldenen Käfig befreite und der Frauenbewegung anschloss. Meine Freundin
konterte ihrerseits mit einem Roman über einer Emanze, die dem Flehen eines
Barons erlag und mit ihm auf sein
Schloss zog, um fortan ihr Leben damit zu verbringen, eine Patience vor dem
Kamin zu legen.
So hatte dieses Leseerlebnis doch viele
kreative Elemente hervor gebracht.
Fazit: Man sollte nicht glauben, beurteilen
zu können, welche Auswirkungen bestimmte Einflüsse auf einen Menschen haben.
Hallo Annette,
AntwortenLöschenmeine Oma las keine Groschenromane, aber die Nachbarin Doris und das hatte den Vorteil, dass ich nicht nur einen einzigen Roman immer wieder lesen "musste", sondern mit frischem Lesestoff versorgt wurde, wenn es Doris' Taschengeld zuließ.
Natürlich habe ich auch irgendwann einen geschrieben, ich erinnere mich noch gut an all die Herzschmerzgefühle meiner Pubertät, die in "meinem" Roman Platz fanden.
Da hast du gerade alte ERinnerungen bei mir wachgekitzelt, danke schön!
Liebe Grüße
Regina
Wie schön!
LöschenLustig! Erst kürzlich erinnerte ich mich an diese 'Wahren Geschichten' von Adeligen und einfachen Mädchen,
AntwortenLöschenliebe Annette,
oder Ärzten und ebenfalls einfachen Mädchen...
Die Heftli gehörten in meine Teenagerjahre, als Old Shatterhand und Winnetou endgültig weggeritten waren...
Schön, dieser Beitrag! Herrlich, deine Erinnerungen zu lesen!
Herzlich und ebenfalls voller Erinnerungen
HAusfrau Hanna