Sonntag, 10. August 2014

Über das Vergessen


„Manchmal,  werde ich gefragt, ob ich auch schon mal im Ausland gewesen bin. Ob ich zum Beispiel Italien kenne oder ob ich schon mal in England war“, sagt mein Vater, und sein Lächeln sieht ein wenig verloren aus. „Aber ich weiß das gar nicht mehr.“
Ich denke an seine vielen Reisen. Nach seiner Pensionierung war er so viel unterwegs, dass ich gar nicht wusste, ob er sich wieder verabschiedete oder zurück meldete, wenn er am Telefon war.
„Erinnerst du dich nicht mehr an Ägypten?“, frage ich ihn. „Wie dich der Straßenhändler vor den Pyramiden fotografiert hat und dir dann deine Kamera nur gegen Bakschisch wieder geben wollte?“
„Nee“, sagt mein Vater überrascht und schaut mich aufmerksam an.
„Oder als du in Shanghai auf Klo musstest, und da saßen Männer und Frauen nebeneinander auf einem Donnerbalken.“
„Was?“ Mein Vater lacht sich kaputt.
Hat er das wirklich erlebt? Die Erinnerung kommt nicht wieder.
„Da sagt man immer, man soll viel reisen, so lange man noch die Kraft hat, damit man sich im Alter an diesen Reisen erfreuen kann“, sage ich. „In Wirklichkeit aber weiß man gar nicht, ob die Erinnerungen bleiben.“
„Nein, das weiß man nicht“, meint mein Vater und schaut in den Garten hinaus.  „Und dann macht es keinen Unterschied, ob man sie gemacht hat, oder nicht.“
Diese Tatsache stimmt mich nachdenklich und traurig. 
Doch mein Vater wirkt nicht besonders bedrückt. Er hat gelernt, mit dem zu leben, was bleibt. 


4 Kommentare:

  1. Mir kommen die Tränen, wenn ich das lese.
    Wahrscheinlich soll man nicht reisen, um Erinnerungen zu sammeln. Wahrscheinlich soll man einfach den Moment bewusst erleben lernen. Vielleicht bleibt das.
    Danke, dass du uns dieses Gespräch hast mitlauschen lassen.
    Lieben Gruss und alles Gute dir!
    Gabriela

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    1. Ja, du hast völlig recht. Und irgendwie leben sie doch in einem - und es macht einen zu einem weitsichtigeren Menschen, als wenn man nie gereist ist.
      Liebe Grüße auch an dich und deiner schönen Reise zum Herzen von Mirjam.

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  2. Eine berührende Geschichte ist das,
    liebe Annette,
    ich war ganz nah dabei und wünsche deinem Vater viele zufriedene Momente in dem, was ist.
    Und dir daneben sitzend auch.

    Herzlich und alles Liebe
    Hausfrau Hanna

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  3. Die Erinnerungen sind ja doch geblieben. Irgendwie. Aber es gibt andere Leute, die sich für ihn erinnern und ihm die Erinnerungen wieder nahe bringen. Bis ins Internet haben es die Erinnerungen jetzt sogar schon geschafft. Das hat sich doch gelohnt!

    Ich hab weniger Angst vor dem Vergessen, mehr aber dass ich irgendwann Sachen für wahr halte, die gar nicht passiert sind. Dass ich mir Geschichten ausdenke oder von Geschichten höre und sie mit der Zeit für tatsächliche Erinnerungen halte. Dass ich die Flut von Nachrichten und Zeitungsartikeln, Filmen und Büchern irgendwann vermische und nicht mehr auseinander bekomme.
    Aber warten wir einfach ab, was das Alter bringt.

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