Und dann war da dieser autistische Junge.
Sein Platz in der Klasse ist seine Insel. Er schaut vor sich hin. Räuspert sich
immer wieder. Nennt mir nicht seinen Namen.
„Der wird wahrscheinlich nicht mitmachen“,
sagt die Lehrerin. „Nehmen Sie es nicht persönlich. Der braucht seine
Sicherheit.“
Doch dann schreibt er doch etwas, und was er
schreibt ist so ungewöhnlich, dass wir alle staunen. Überraschung auch in
seinem Gesicht.
Dann geht es los mit dem Workshop, und
plötzlich nimmt er seinen Stuhl und setzt sich zu zwei Freunden. Und dann lacht
er und sprüht vor Ideen. Ich schaue mich immer mal zu ihm um. Ist er es, der so
laut lacht? Der jubelt, weil er seine Idee so gut findet. Der alle mitreißt mit
seinen Einfällen. In der Gruppe hört man die Arbeit knistern.
Die Lehrerin ist fassungslos. Ich bin es
auch.
Am nächsten Tag sitzt er wieder auf seiner
Insel. Die Gruppe trägt die Geschichte vor. Sie wechseln sich mit dem Lesen ab.
Auch er liest ein Stück. Seine Stimme ist tonlos. Doch die Geschichte ist gut.
Die anderen lachen laut. Da wagt er ein stilles Lächeln.
Am nächsten Tag ist Unruhe in der Schule.
Alle präsentieren ihre Projekte. Nichts ist wie vorher. Die Insel im Meer
versunken.
Der Junge läuft in kleinen Kreisen über den
Schulhof. Immer in der Runde. So schnell, dass einem beim Zuschauen schwindelig
wird.
„Das macht er in jeder Pause“, sagt die
Lehrerin.
Wir stehen am Fenster und sehen ihm zu.
Mitleidig. Bestürzt.
Es ist Zeit. Ich muss gehen. Von allen
Schülern und Kollegen habe ich mich schon verabschiedet. Nur der Junge fehlt
mir noch. Ich gehe zu ihm hinüber. Spreche ihn an. Er bleibt stehen. Schaut nicht
auf.
Ich sage ihm, dass ich jetzt gehe. Dass mir
die Arbeit Spaß gemacht hat. Dass mir seine Geschichte gefallen hat. Seine
lebendige Art zu schreiben. Und dass er unbedingt weiter schreiben soll. Er ist
so gut darin.
Ich strecke ihm meine Hand entgegen. Er
überlegt. Zögert. Ringt mit sich. Dann reicht er mir zwei Finger. Für einen
Augenblick schaut er mich an. Lächelt.
(Foto: Gotland, Schweden)
Ach, Annette! Jetzt ist mir ganz warm ums Herz!
AntwortenLöschenHerzlichst
Marie
Ein schönes Erlebnis liebe Annette, wie wunderbar, das der Junge seine Insel einige Zeit verlassen konnt. Und er hat Dir die Hand gereicht, wenn auch nur zwei Finger, das ist für einen autistischen Jungen sehr viel und ein Zeichen das er Dir vertraut.
AntwortenLöschenDu kannst stolz darauf sein.
Liebe Grüße
Angelika
Sehr ergreifend, Annette, danke, Dass Du uns das erzählt hast.
AntwortenLöschenLG Heidi
Schon alleine dafür lohnt es sich doch, mit Jugendlichen zu arbeiten, oder? Wie wunderbar, was Schreiben bewegen kann. Und was du bewegt hast.
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