Sonntag, 23. September 2012

Fahrt durch Thüringen



Auch in diesem Jahr bin ich wieder zu Lesungen nach Thüringen eingeladen. Diesmal fahre ich mit dem Auto.
Die ehemalige DDR-Grenze zu überschreiten ist mir immer noch ein besonderes Erlebnis. Die Grenzöffnung liegt nun schon 23 Jahre zurück. Längst müsste es selbstverständlich sein, nach Thüringen zu fahren. Aber das ist es für mich nicht.
Auf der Autobahn bin ich wachsam. Welche Orte gehören noch zum Westen, welche zum Osten? Wo verlief die Grenze? Dann endlich das Schild: „Auf Wiedersehen in Hessen“ und „Willkommen in Thüringen“. Da ist es wieder, dieses ganz besondere Gefühl.
Der Tag X, dieser Tag, an dem die DDR ihre Grenzen öffnete,  war ein unglaublicher Tag in  der Geschichte unseres Landes, und ich durfte ihn miterleben.
Ich hatte gerade das 3. Kind bekommen (Benny ist ein „Wendekind“) und hatte Mühe, meinen Alltag zwischen den Windelbergen und Babybrei zu überleben. In dieser Zeit flohen immer mehr DDR-Bürger über die ungarische Grenze.
„Stell dir mal vor, die Grenzen wären auf“, sagte ich zu meinem Mann nach den Nachrichten, und ich erinnere mich noch, dass ich diese Idee einfach nur utopisch fand.
Plötzlich ging alles so schnell, dass wir atemlos jede freie Minute vor dem Fernseher verbrachten. Die Mauer fiel, und die Menschen wanderten zwischen den Grenzen hin und her, bestaunten das Brandenburger Tor von der anderen Seite, reichten sich unter Tränen durch die Mauer die Hand, feierten eine Fete auf der Berliner Mauer.
Oh, wie gerne hätten wir da unsere Sachen gepackt und wären zu ihnen gefahren, um das alles hautnah zu erleben. Diese Veränderung im Fernsehen sehen zu müssen, war schwer zu ertragen.
So ist in mir immer noch ein Staunen, dass alles anders ist. Dass ich nicht mehr als Bitsteller in einer langen Schlange stehe, mit einem Reisepass und einem Visum in der Hand. Dass ich Rügen sehen darf, dass ich die Wartburg besichtige, dass ich durch Leipzig bummele und dass ich sogar zu Lesungen durch Thüringen unterwegs sein darf.

(Foto: Gotha, Heinrich-Heine-Bibliothek)

1 Kommentar:

  1. Wunderbar beschrieben, liebe Annette.
    Wie schön es doch heute ist, man kann durch Berlin reisen und weiter in den Osten ohne Angst. Ich hatte immer ein ungutes Gefühl an der Grenze.

    Liebe Grüße und noch einen schönen Abend
    Angelika

    AntwortenLöschen