Freitag, 4. Mai 2012

Die ganz persönliche Wahrheit



Neulich saß ich vor dem Einwohnermeldeamt auf der Wartebank, neben mir ein junger Mann. Er kenne mich, sagt er plötzlich. Ich sei ein Jahr lang seine Deutschlehrerin gewesen. Er nennt  mir seinen Namen - ein russischer Schüler. Ich erinnere mich an ihn, hätte ihn aber nicht wieder erkannt. Als ich ihn frage, was er so macht, bricht es aus ihm heraus. Er studiere Elektrotechnik, habe also Abitur gemacht, obwohl meine Kollegen und ich ihn „nur“ für die Realschule empfohlen haben. Aber er habe die Schule gut abgeschlossen und dann mit dem Berufskolleg aufgebaut.
„Das ist ja toll“, freue ich mich.
Aber nun legt er so richtig los. Dass es typisch sei für deutsche Lehrer, nur die Deutschen zum Gymnasium zu empfehlen. Außerdem die reichen Familien. Seine Eltern dagegen könnten schlecht Deutsch, seien einfache Menschen.
Ich bin erschrocken, überprüfe sofort bei mir, ob der junge Mann Recht hat.
Wie er so redet, mit trotzigem Gesicht, die Worte stoßweise aus dem Mund gepresst, fällt er mir so genau wieder ein, dass ich mich sogar an seine Handschrift erinnere. Er war ein gewissenhafter Schüler, still und konzentriert. Doch wenn man ihm eine Aufgabe stellte, die ihn überforderte, brach genau dieser Trotz aus ihm heraus. Dann konnte er mitten in der Handlung innehalten. Er bewegte sich nicht mehr, atmete kaum noch und schaute mich nicht mehr an. Diese Starre hielt dann  die ganze Stunde an. Sie machte mich oft ratlos. So einem Schüler rät man das Gymnasium nicht, dazu ist die Sorge viel zu groß, dass er bei der kleinsten Krise abbricht.  Ich überlege, ihm das zu erklären, doch jetzt sind zwei weitere Wartende hinzu gekommen, und ich mag ihn nicht vor diesen Menschen bloß stellen.
Da wird das Amtszimmer frei und er geht hinein. Als er wieder heraus kommt, schaut er mich nicht an, verabschiedet sich nicht.
Vertan die Chance, meine Sichtweise zu erklären. Und so bleibt die Aussage im Raume stehen, dass Lehrer immer ungerecht sind. Naja, wir sind es gewöhnt, die Bösen zu sein. 

(Foto: Gotha) 

1 Kommentar:

  1. In Soziologie haben wir gelernt, dass es tatsächlich Statistiken gibt, die dieses Auswahlverhalten belegen. Dass also beispielsweise bei gleichen Noten ein Kind aus einer gutverdienenden (intakten) deutschen Familie eher eine Gymnasialempfehlung bekommt als das Kind einer alleinerziehenden Spätaussiedlerin, die als Putzfrau arbeitet.

    Ich glaube, dass die meisten Lehrer gute Gründe haben für die Empfehlungen, die sie ausstellen. Aber ich glaube auch, dass manchmal die eigentlichen Probleme und Chancen beim Erteilen von Empfehlungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Aber na ja, im Nachhinein kann man sich immer gut den Kopf drüber zerbrechen, ob man etwas anders/besser hätte machen sollen. Vergossene Milch und so.

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