Mittwoch, 28. Mai 2014

Groschenromane




Ich verbrachte meine Sommerferien oft bei meiner Großmutter. Meine Oma war eher unordentlich und unorganisiert, und ich fand ihr Chaos immer wundervoll. Sie ließ mich einfach in Ruhe. Ich spielte in ihrem großen Garten oder stromerte durch die Nachbarschaft. Wir machten ein Feuer im Garten und legten Kartoffeln hinein. Einmal fand ich einen Vogel, der aus dem Nest gefallen war, und natürlich durfte ich ihn bei ihr aufziehen.
Eines Tages fand ich bei meiner Großmutter einen Groschenroman. Ich verschlang die Geschichte – eine Liebesbeziehung, die erst so romantisch begann und dann so tragisch endete, und zuletzt, als ich schon alles verloren glaubte – haltet euch fest – traf  die Protagonistin die Liebe ihrer Kindheit wieder und ging mit ihm eine neue Beziehung ein. Was für ein unglaublicher Zufall! Niemals hätte ich das für möglich gehalten.
Ich las den Roman mehrere Male. Zum Abschied schenkte meine Großmutter ihn mir. Ich versteckte ihn in meinem Nachtisch und las ihn immer mal wieder – bis zu dem Tag, an dem meine Mutter plötzlich in meinem Zimmer stand. In aller Hektik versteckte ich den Roman unter meiner Bettdecke. Wir hatten zu Hause nie über Groschenromane gesprochen, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, meine Mutter würde diese Art von Literatur nicht gut finden. Natürlich wollte meine Mutter nun wissen, was ich unter der Bettdecke vor ihr verborgen hielt, und es blieb mir nichts anders übrig, als ihn zu zeigen. Sie war fassungslos. Auf der Stelle wollte sie wissen, von wem ich dieses Schundheftchen bekommen hatte, und als ich ihr sagte, ich hätte es von meiner Oma bekommen, schnappte sie nach Luft und wusste nicht zu wechseln. Sie konnte ja schlecht auf meine Oma schimpfen. Mit dem Heftchen in der Hand wanderte sie zu meinem Vater. Die beiden diskutierten eine Weile hin und her. Mein Vater fand das alles nicht so schlimm, und so gab mir meine Mutter den Roman mit spitzen Fingern und der Bemerkung zurück, das wäre die geistloseste Literatur, die sie sich vorstellen könnte. Dabei kannte sie meinen Roman doch gar nicht!
Okay, damit war klar, dass ich den Roman nicht wieder las. Der Spaß war mir einfach vergangen.
Später aber schrieb ich selbst einen Liebesroman für eine Freundin, die Groschenromane über alles liebte. Ich erlebte zu der Zeit meine erste Emanzipationswelle,  und so handelte mein Roman von einer jungen Baronin von und zu irgendwas, die sich aus ihrem goldenen Käfig befreite und der Frauenbewegung anschloss. Meine Freundin konterte ihrerseits mit einem Roman über einer Emanze, die dem Flehen eines Barons erlag und mit ihm auf  sein Schloss zog, um fortan ihr Leben damit zu verbringen, eine Patience vor dem Kamin zu legen.
So hatte dieses Leseerlebnis doch viele kreative Elemente hervor gebracht.
Fazit: Man sollte nicht glauben, beurteilen zu können, welche Auswirkungen bestimmte Einflüsse auf einen Menschen haben.

3 Kommentare:

  1. Hallo Annette,
    meine Oma las keine Groschenromane, aber die Nachbarin Doris und das hatte den Vorteil, dass ich nicht nur einen einzigen Roman immer wieder lesen "musste", sondern mit frischem Lesestoff versorgt wurde, wenn es Doris' Taschengeld zuließ.
    Natürlich habe ich auch irgendwann einen geschrieben, ich erinnere mich noch gut an all die Herzschmerzgefühle meiner Pubertät, die in "meinem" Roman Platz fanden.
    Da hast du gerade alte ERinnerungen bei mir wachgekitzelt, danke schön!
    Liebe Grüße
    Regina

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  2. Lustig! Erst kürzlich erinnerte ich mich an diese 'Wahren Geschichten' von Adeligen und einfachen Mädchen,
    liebe Annette,
    oder Ärzten und ebenfalls einfachen Mädchen...
    Die Heftli gehörten in meine Teenagerjahre, als Old Shatterhand und Winnetou endgültig weggeritten waren...
    Schön, dieser Beitrag! Herrlich, deine Erinnerungen zu lesen!

    Herzlich und ebenfalls voller Erinnerungen
    HAusfrau Hanna

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