Gemeinsam mit einer
kleinen Gruppe stehe ich vor dem Gothaer Rathaus. Wir warten auf den
Abendrundgang mit „Lucas Cranachs Schwiegervater“, eine dieser schönen
Spaziergänge im Kostüm auf den Spuren Lucas-Cranachs. Bevor es losgeht,
lauschen wir dem Glockenspiel, das über dem Markplatz ertönt und versuchen, die
Melodie zu erkennen. Ich identifiziere das Lied: „Üb immer Treu und
Redlichkeit, bis an dein kühles Grab“, was außer mir niemand zu kennen scheint.
„So bibelfest sind wir nicht“, sagt ein Mann lachend.
Dass ich bibelfest bin, habe ich auch nicht gewusst.
Wir ziehen durch die Stadt und bleiben im Brühl vor einer Hausmarke stehen. Ob
wir wissen, welche Geschichte hier abgebildet ist, werden wir gefragt. Ich bin
offensichtlich die einzige, die die Geschichte aus dem Alten Testament kennt, in
der der König Salomo androht, ein Kind mit einem Schwert zu teilen, weil zwei
Frauen behaupten, die eigentliche Mutter zu sein.
Bibelfest! Jetzt glaube ich es schon fast selbst!
Allmählich werde ich nachdenklich. Bei uns zu Hause spielte die Religion eher
eine untergeordnete Rolle. Zur Kirche gingen wir höchstens zu Weihnachten. Aber
die biblischen Geschichten und Lieder gehörten zum Kindergarten- und
Schulbesuch. Später kam der Konfirmandenunterricht dazu, in dem ich viele
Geschichten aus dem alten und neuen Testament zu hören bekam. Die lernt man für‘s
Leben, zumal viele biblische Geschichten immer wieder in der Musik, der
Literatur oder der Kunst auftauchen. Trotzdem habe ich mich nie als besonders
„bibelfest“ gesehen.
Eine Woche später bin ich zu einem Workshop zum Thema „Cybermobbing“ in der
Stadtbibliothek. Bei einem Spiel über Ausgrenzung werden die Kinder eines 4.
Schuljahres aufgefordert, verschiedene Fragen mit ja und nein zu beantworten
und sich in einem Raum auf bestimmten Karten zu positionieren. Es geht um
Fragen zur Internetbenutzung, zum Smartphone, aber auch zum Sport, zu
allgemeinen Dingen … und dann kommt die Frage: „Glaubst du an einen Gott“.
Während sich die beiden muslimischen Kinder ganz klar für „ja“ entscheiden,
gesellen sich nur noch zwei weitere deutsche Kinder dazu, die restlichen
zwanzig Kinder stehen bei „nein.“ Die Antworten sind keinesfalls zufällig, auch
bei den kommenden zwei weiteren Klassen bekräftigt die Mehrheit der Schüler,
nicht an Gott zu glauben.
Da ich ja nun selbst lange Grundschullehrerin war, kann ich sagen, dass diese
Antwort an unserer Schule komplett anders ausgefallen wäre. Ich bin sogar
sicher, dass alle meine Schüler geschlossen bei „Ja“ gestanden hätten. Nun gut,
meine jetzige Heimat im Kreis Paderborn ist überwiegend katholisch geprägt. Die
Schüler unserer Schule sind oft noch sehr mit ihrem Glauben verbunden. Besonders
wenn sie im 3. Schuljahr waren und die Heilige Kommunion vor sich hatten,
konnte man sie fast seligsprechen.
Dass hier in Gotha fast alle Schüler ganz fest von sich behaupteten, nicht an
Gott zu glauben, bestürzte mich irgendwie. Natürlich, als Jugendlicher setzen
im Glauben viele Zweifel ein und als Erwachsener hat man die Beziehung zu Gott
oft verloren. Aber als Kind ohne einen Gott klar kommen zu müssen, erscheint
mir irgendwie so schutzlos.
Als Kindergartenkind
erlebt man vielleicht die Eltern noch als allwissend und Halt gebend, doch
spätestens in der Grundschule spürt man, dass der Handlungsspielraum von Eltern
begrenzt ist und Eltern einfach nicht alles können und wissen. Dann braucht man
doch eigentlich jemanden, an den man sich wenden kann, wenn man mal wieder Mist
gemacht hat, den keiner erfahren darf und hofft, er regelt das alles zum
Besten. Und spätestens wenn man einen lieben Menschen verloren hat, spürt man
doch nach der ersten tiefen Trauer diesen Wunsch, dass es da noch irgendetwas
gibt, was nach dem Tod kommen könnte.
„Wenn du nicht an Gott glaubst, was machst du denn, wenn du mal Hilfe brauchst,
und du weißt, dass deine Eltern dir nicht helfen können?“, frage ich das
Mädchen, das neben mir sitzt. Sie schaut mich mit großen Augen an. „Glaubst du
dann, dass es da jemanden gibt, der dir helfen kann?“ Das Mädchen nickt. „Aber
wenn es dann nicht Gott ist, wer ist es dann?“, frage ich. Das Mädchen zuckt
die Schultern.