Und wieder bin ich an einer Schule mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Mein
Buch „Aber ich bin doch selbst noch ein Kind“ soll die Einführung zu einem
Aufklärungsprojekt werden. Ich habe verschiedene Szenen aus dem Buch heraus
gesucht, die ich lesen will. Anschließend will ich diese Szenen als
Rollenspiele erarbeiten oder szenisch lesen lassen.
Die Schüler sind aufgeregt – und ich auch.
Ich mache eine Eingangsrunde und versuche, mir dabei einen ersten Eindruck von
den Fähigkeiten der Schüler zu machen. Einige können nicht sprechen, andere
keinen Blickkontakt halten, wieder andere sind konzentriert dabei. Hinter zwei
Schülern halten sich zwei Integrationshelfer für den Fall bereit, dass es
schwieriger werden könnte.
Das Katzenmädchen fällt mir sofort auf. Sie
wiegt sich hin und her, verfolgt die Vorstellung des Projekts mit lauerndem
Blick.
Für die Hauptpersonen habe ich Requisiten mitgebracht:
Ein Tuch für die Laura und einen Hut für den Jonas. So ist es möglich, die
Rollen nach einer Szene zu wechseln, und doch können die Zuschauer, die einen
Tag später kommen wollen, den Personenwechsel nachvollziehen.
Das Katzenmädchen meldet sich als erstes,
Laura zu spielen, bringt sich dann – zum Erstaunen ihrer Integrationshelferin –
immer wieder ein und arbeitet in fast jeder Szene mit.
Dann ist da das freundliche Mädchen mit dem
Down-Syndrom. Sie will nur zuschauen, spielt zuletzt eine Statistenrolle. Ich
bin mir sehr unsicher, ob sie sprechen kann.
Zu erwähnen ist auch noch der große Junge,
der gerne ein bisschen ausklinken kann. Er kann sich schrecklich aufregen, aber
als er dann bei einer Szene mitspielt, kommt ihm erst nach langem Zögern ein
Satz über die Lippen.
Jeder Schüler ist anders, und das besondere an diesen besonderen Kindern ist, dass sie
die Ticks ihrer Mitschüler mit Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Diese Klasse
ist ein Meisterstück an Toleranz. Ich bin sehr berührt.
Am nächsten Tag wiederholen wir die Szenen.
Um 11.00 Uhr erwarten wir ein paar Zuschauer aus den anderen Klassen. Das
erhöht die Aufregung, aber auch den Druck.
Jetzt passieren sehr unerwartete Dinge. Das
freundliche Down-Syndrom-Mädchen meldet sich zu Wort. Sie möchte noch bei
anderen Szenen mitspielen. Ich bin überrascht über ihre Klarheit. Ich habe sie
völlig unterschätzt. Da eine Schülerin erkrankt ist, haben wir in ihr einen wundervollen
Ersatz gefunden.
Der Junge, der immer eine Zeit braucht, bis
er seinen Satz gesprochen hat, ist heute präsent. Auch andere haben über Nacht
in ihre Rolle gefunden.
Und dann rastet das Katzenmädchen aus. Etwas
ist zu Hause vorgefallen, und jetzt will sie nicht mehr spielen. Sie will noch
nicht mal mit einem von uns reden. Ihr Gesicht ist verschlossen. Sie bemalt
ihre Nägel mit schwarzem Filzstift. Der Lehrerin und der Integrationshelferin
gelingt es, sie zu einem Gespräch in den Nebenraum zu bitten. Doch als sie ohne
das Katzenmädchen wieder heraus kommen, winken sie ab. Sie spielt nicht mehr
mit. Das ist ein schwerer Schlag für uns.
Wir versuchen, ihre Rolle zu ersetzen, doch
sie fehlt überall.
Ich sehe jetzt, wie sie hinter der Tür des
Nebenraumes steht und uns beim Spielen zuhört. Ihr Gesicht ist traurig. Ihr
Körper wiegt sich in schnellerem Rhythmus hin und her. Schließlich wage ich es
ein letztes Mal. Ich gehe zu ihr, sage, dass wir nun alles noch einmal spielen.
Sie könne jetzt noch einsteigen, danach sei es zu spät. Ich sage ihr auch, dass
sie uns fehlt, dass wir sie in jeder Szene vermissen. Und da, ganz unvermittelt,
kommt die Wende. Plötzlich ist sie bereit, ist wieder die Alte. Sie spielt ihre
Rollen sogar fast noch besser als am Tag zuvor.
Die Aufführung ist toll. Die Zuschauer sehen
tolerant darüber hinweg, dass alles ein bisschen improvisiert ist, und so
kriegen wir einen langen Applaus und liebes Feedback.
Das Katzenmädchen hat sich in das Tuch
gekuschelt. „Das ist so schön weich“, sagt sie. Da schenke ich es ihr zum
Abschied.