Montag, 22. November 2021

Gespräche an Totensonntag


 

Sie beobachtet mich, wie ich über den Friedhof streife, nach dem Grab eines alten Freundes suchen, der irgendwo in der Nähe des Hauptweges liegen soll. Dann fragt sie, ob sie helfen kann. Sie kenne sich hier auf dem Friedhof gut aus, ist nahezu täglich hier. Ich nenne ihr den Namen, und wir suchen eine Weile gemeinsam, finden es aber nicht. Stattdessen landen wir vor den Gräbern ihrer Familie. Zwei schöne Gräber nebeneinander. Auf dem Grab an der linken Seite liegt ihr Mann, wie ich erfahre. Ein schönes Grab, schwarze glänzende Marmorplatte mit weißen Blumen aus Stein, zu Rosen geformt. Dazu frische Blumen in bunten Gestecken. Rechts davon ein Kindergrab mit dem Foto eines kleinen Mädchens, dazu bunte Kugeln, viele Blumen, Kerzen, Kleinigkeiten die darauf hinweisen, dass jemand oft vorbeikommt. Ihre Enkelin, so erklärt sie. 2014 gestorben mit neun Jahren. Autounfall. Das Schicksal hat die Welt aus den Fugen gebracht. Seitdem gibt es Eltern, die nicht darüber hinwegkommen, ihr Kind verloren zu haben, die untröstliche Großmutter, die über ihr einziges Enkelkind trauert, der Großvater, der kurz danach vor Kummer gestorben ist. Wenigstens konnten sie das Nachbargrab für ihn bekommen. Da liegt das Kind nicht so alleine da, sagt sie.
Was für ein kleines trauriges Glück.
Ich höre zu, weiß gar keine Worte, denke mir, dass sie auch schon alles gehört hat, und dass es ja doch die Wunden nicht heilt. Einen Moment stehen wir still da und trauern gemeinsam.
„Damit muss man dann leben“, sagt sie leise. „So viele Jahre nun schon.“
Was der Mensch alles aushalten kann, denke ich.

 

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