„Hier habe ich
gestanden“, erklärt Frau Gerlach, meine ganz persönliche Reiseleiterin, die
mich nun schon mehrfach durch die Stadt begleitet hat und die Plätze und
Häuserzeilen mit spannenden Geschichten lebendig werden lässt. „Und mit mir
waren es Hunderttausende.“ „Hunderttausende? Hier auf dem kleinen Platz? Wie
ist das möglich?“, frage ich. „Ach wir waren doch alle verrückt“, sagt sie.
„Wir haben geweint vor Freude, uns umarmt. Es war unglaublich.“
Fasziniert schaue ich auf die Gedenktafel von Willy Brand: „Jetzt wächst
zusammen, was zusammen gehört“, und beim Lesen kriecht auch mir ein Schauer
über den Rücken.
Das war tatsächlich ein unglaublicher, unwiederbringlicher und anrührender
Moment, dieser Moment der Wiedervereinigung, der Wende. Es gibt nur wenige
Momente in einem Menschenleben, in dem man echte, bahnbrechende Geschichte
erlebt. Ich habe die Wende erlebt – ein Erlebnis, um das mich unsere Kinder
immer beneidet haben, und das mich traurig werden lässt in Erinnerung an meine
Mutter, die so unglücklich über die deutsch-deutsche Teilung war, aber die
Grenzöffnung nicht mehr erlebte.
Ich bin ein Kind der BRD. Auf meiner Deutschlandkarte, die wir im Heimatkundeunterricht
in unserem Diercke-Weltatlas aufschlugen, gab es nur die Bundesrepublik. Hinter
der Grenze begann die „sowjetisch besetzte Zone“, die in hellem Gelb-Beige
dargestellt war. Ich war immer ein bisschen verwundert darüber, dass sich östlich
des Harzes eine große Steppenlandschaft befand. Eines Tages erzählte uns ein
Lehrer, auch jenseits der Grenze gäbe es Städte, ja sogar Flüsse, Täler und
Gebirge. Das verwirrte mich nur noch mehr, weil ich nicht verstand, warum man
sie dann nicht abbildete. Was versteht man als Kind denn schon vom Kalten
Krieg.
Mit 15 bereiste ich das erste Mal die DDR. Unsere Kirchengemeinde hatte einen
Austausch mit einer Partnergemeinde in Magdeburg. Die Treffen unter uns
Jugendlichen waren sehr intensiv, und zum Abschied fielen schnell so Sätze wie:
Hau doch ab, was willst du hier? Ich nehme dich mit. Verzweifelte Sätze, weil
der Abschied so schwer war und wir als Jugendliche die Gefahr nicht einschätzen
konnten und Werte wie Heimat und Familie eher peinlich besetzt waren.
Als die Mauer fiel, war ich gerade in einer Lebensphase der absoluten
Unbeweglichkeit. Ich hatte unser drittes Kind bekommen und saß zwischen
Windelbergen Stunde um Stunde mit dem Baby auf dem Arm vor dem Fernseher. Zu
gerne hätte ich zur Pink Floyd Musik auf der Berliner Mauer getanzt. Aber es
gibt Momente im Leben, da lernt man zu verzichten.
Nun sind fast 28 Jahre vergangen. Die Wende ist Zeitrechnung geworden – es gibt
eine Zeit davor und eine danach. Längst hat uns die Realität eingeholt. Es gibt
so viele Dinge, die man besser gemacht hätte, und zu glauben, jetzt nach 28
Jahren wäre alles ausgeglichen, ist ein Wunschgedanke. Wir gehen aufeinander
zu, einige in großen, anderer in kleinen Schritten. Und doch lässt sich die
Zeit nicht zurückdrehen. Es bleibt die Erinnerung an einen unglaublichen
geschichtlichen Moment, ein großartiges Gänsehauterlebnis, und für mich ganz
persönlich die große Freude, dass ich jetzt hier im Osten sein kann, einfach
so, ohne Visum, Aufenthaltsgenehmigung und Zwangsumtausch. Meine Tanze Luzie
würde sagen: „Du bist in Gotha? Kind, das liegt doch in der Zone, oder?“
