Montag, 24. Juni 2019

Beim Anblick eines Dinos




Ich bin gezwungen, den Samstagabend in der Notaufnahme zu verbringen. Sohn Nils hat sich bei einem Familienbesuch das Hoverboard seines Neffen ausgeliehen und einen beeindruckenden Stunt gedreht. Nun sitzen wir zwischen seufzenden und stöhnenden Menschen mit dicken Armen, aufgeschlitzten Knien und fiebrigen Stirnen. Durch das lange Warten und die Sorgen um die Wunden bilden wir eine gemeinsame Gruppe. Jeder Neuzugang wird aufmerksam angeschaut.
Zu später Stunde kommt eine junge Mutter mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Er trägt keine Schuhe und alle Blicke richten sich entsetzt auf den großen Zeh, der blutig und zerquetscht aussieht. Der Zehnagel befindet sich an einer Stelle, an der er nicht sein dürfte. Der Junge versucht, die aufsteigende Panik immer wieder zu unterdrücken.
„Nicht hingucken, nicht hingucken“, murmelt er wie ein Mantra. Gleichzeitig hält er die Hand vor die Augen, spreizt die Finger und blinzelt verzweifelt zu uns hinüber. Die Mutter drückt ihn an sich. 
„Es gibt hier ein paar schöne Bücher“, sage ich zu dem Jungen. Ich bin schließlich schon zwei Stunden hier und kenne mich aus.
Die Mutter ist erleichtert, geht in die Kinderecke und kommt mit einem Dinobuch zurück. Dann beginnt sie zu lesen. Wir sehen, wie sich die Aufmerksamkeit des Jungen gespannt auf das Buch richtet. Auch wir lauschen der Geschichte. Was ist denn schon ein lächerlicher Schmerz, wenn man direkt in das aufgerissene Maul eines Dinos blickt. 

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