Dienstag, 18. Juni 2019

Weizensommer


Wir haben in einer Vorstellungsrunde die Aufgabe, den Weizen zu nehmen und zu sagen, woran er uns erinnert. Die Runde soll kurz sein. Wir haben schließlich Hunger, und das Essen riecht gut.
Doch da ist dieser eine, der sich an einen ganz besonderen Sommer erinnert. Es war das Jahr 1949. Seine Eltern – selbstständige Landwirte der DDR– werden immer wieder bedrängt, in die LPG einzutreten. Sie weigern sich standhaft, auch als die Propagandisten immer radikaler werden. Mit Lautsprechern werden sie bedrängt, zur Kollektivierung der Landwirtschaft beizutragen. Zunächst werden die Namen derer lobend erwähnt, die sich solidarisch zeigen. Dann werden die Namen genannt, die sich immer noch weigern. Zuletzt ist es nur noch ein Name, der gezielt gerufen wird. Es ist ihr Name. Irgendwann sind sie mürbe und geben auf.
Ihr Land wird in die LPG eingeführt, ebenso die Tiere. Die Pferde werden zur Schlachtbank geführt. Pferde braucht man nicht mehr, denn die neuen Landmaschinen aus der Sowjetunion werden in den nächsten Tagen kommen. Die Familie weint. Die Pferde sind ihnen ans Herz gewachsen.
Dann kommt der Sommer. Das Getreide ist reif. Nur die Maschinen sind nicht da. Das ist der Sommer, in dem er zum ersten Mal in seinem Leben das Getreide mit der Hand sensen muss. Er, seine Eltern, das ganze Dorf. Er ist 10 Jahre alt. Der Sommer bleibt unvergessen.

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