Samstag, 11. März 2017

Jetzt wächst zusammen…

 

„Hier habe ich gestanden“, erklärt Frau Gerlach, meine ganz persönliche Reiseleiterin, die mich nun schon mehrfach durch die Stadt begleitet hat und die Plätze und Häuserzeilen mit spannenden Geschichten lebendig werden lässt. „Und mit mir waren es Hunderttausende.“ „Hunderttausende? Hier auf dem kleinen Platz? Wie ist das möglich?“, frage ich. „Ach wir waren doch alle verrückt“, sagt sie. „Wir haben geweint vor Freude, uns umarmt. Es war unglaublich.“ 
Fasziniert schaue ich auf die Gedenktafel von Willy Brand: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, und beim Lesen kriecht auch mir ein Schauer über den Rücken.
Das war tatsächlich ein unglaublicher, unwiederbringlicher und anrührender Moment, dieser Moment der Wiedervereinigung, der Wende. Es gibt nur wenige Momente in einem Menschenleben, in dem man echte, bahnbrechende Geschichte erlebt. Ich habe die Wende erlebt – ein Erlebnis, um das mich unsere Kinder immer beneidet haben, und das mich traurig werden lässt in Erinnerung an meine Mutter, die so unglücklich über die deutsch-deutsche Teilung war, aber die Grenzöffnung nicht mehr erlebte. 
Ich bin ein Kind der BRD. Auf meiner Deutschlandkarte, die wir im Heimatkundeunterricht in unserem Diercke-Weltatlas aufschlugen, gab es nur die Bundesrepublik. Hinter der Grenze begann die „sowjetisch besetzte Zone“, die in hellem Gelb-Beige dargestellt war. Ich war immer ein bisschen verwundert darüber, dass sich östlich des Harzes eine große Steppenlandschaft befand. Eines Tages erzählte uns ein Lehrer, auch jenseits der Grenze gäbe es Städte, ja sogar Flüsse, Täler und Gebirge. Das verwirrte mich nur noch mehr, weil ich nicht verstand, warum man sie dann nicht abbildete. Was versteht man als Kind denn schon vom Kalten Krieg.
Mit 15 bereiste ich das erste Mal die DDR. Unsere Kirchengemeinde hatte einen Austausch mit einer Partnergemeinde in Magdeburg. Die Treffen unter uns Jugendlichen waren sehr intensiv, und zum Abschied fielen schnell so Sätze wie: Hau doch ab, was willst du hier? Ich nehme dich mit. Verzweifelte Sätze, weil der Abschied so schwer war und wir als Jugendliche die Gefahr nicht einschätzen konnten und Werte wie Heimat und Familie eher peinlich besetzt waren.
Als die Mauer fiel, war ich gerade in einer Lebensphase der absoluten Unbeweglichkeit. Ich hatte unser drittes Kind bekommen und saß zwischen Windelbergen Stunde um Stunde mit dem Baby auf dem Arm vor dem Fernseher. Zu gerne hätte ich zur Pink Floyd Musik auf der Berliner Mauer getanzt. Aber es gibt Momente im Leben, da lernt man zu verzichten.
Nun sind fast 28 Jahre vergangen. Die Wende ist Zeitrechnung geworden – es gibt eine Zeit davor und eine danach. Längst hat uns die Realität eingeholt. Es gibt so viele Dinge, die man besser gemacht hätte, und zu glauben, jetzt nach 28 Jahren wäre alles ausgeglichen, ist ein Wunschgedanke. Wir gehen aufeinander zu, einige in großen, anderer in kleinen Schritten. Und doch lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen. Es bleibt die Erinnerung an einen unglaublichen geschichtlichen Moment, ein großartiges Gänsehauterlebnis, und für mich ganz persönlich die große Freude, dass ich jetzt hier im Osten sein kann, einfach so, ohne Visum, Aufenthaltsgenehmigung und Zwangsumtausch. Meine Tanze Luzie würde sagen: „Du bist in Gotha? Kind, das liegt doch in der Zone, oder?“


1 Kommentar:

  1. Diese Tage im November 1989,
    liebe Annette,
    als die Mauer fiel und die Menschen sich in die Arme fielen, haben sich auch mir als tiefes Erlebnis eingegraben...
    Und deinen Bericht habe ich Wort für Wort eingesogen:
    Danke!

    Einen schönen Sonntag in Gotha
    und liebe Grüsse
    Hausfrau Hanna

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