Neulich saß ich vor
dem Einwohnermeldeamt auf der Wartebank, neben mir ein junger Mann. Er kenne
mich, sagt er plötzlich. Ich sei ein Jahr lang seine Deutschlehrerin gewesen.
Er nennt mir seinen Namen - ein
russischer Schüler. Ich erinnere mich an ihn, hätte ihn aber nicht wieder
erkannt. Als ich ihn frage, was er so macht, bricht es aus ihm heraus. Er
studiere Elektrotechnik, habe also Abitur gemacht, obwohl meine Kollegen und
ich ihn „nur“ für die Realschule empfohlen haben. Aber er habe die Schule gut abgeschlossen
und dann mit dem Berufskolleg aufgebaut.
„Das ist ja toll“,
freue ich mich.
Aber nun legt er so
richtig los. Dass es typisch sei für deutsche Lehrer, nur die Deutschen zum
Gymnasium zu empfehlen. Außerdem die reichen Familien. Seine Eltern dagegen
könnten schlecht Deutsch, seien einfache Menschen.
Ich bin erschrocken,
überprüfe sofort bei mir, ob der junge Mann Recht hat.
Wie er so redet, mit
trotzigem Gesicht, die Worte stoßweise aus dem Mund gepresst, fällt er mir so
genau wieder ein, dass ich mich sogar an seine Handschrift erinnere. Er war ein
gewissenhafter Schüler, still und konzentriert. Doch wenn man ihm eine Aufgabe
stellte, die ihn überforderte, brach genau dieser Trotz aus ihm heraus. Dann
konnte er mitten in der Handlung innehalten. Er bewegte sich nicht mehr, atmete
kaum noch und schaute mich nicht mehr an. Diese Starre hielt dann die ganze Stunde an. Sie machte mich oft
ratlos. So einem Schüler rät man das Gymnasium nicht, dazu ist die Sorge viel
zu groß, dass er bei der kleinsten Krise abbricht. Ich überlege, ihm das zu erklären, doch jetzt
sind zwei weitere Wartende hinzu gekommen, und ich mag ihn nicht vor diesen
Menschen bloß stellen.
Da wird das
Amtszimmer frei und er geht hinein. Als er wieder heraus kommt, schaut er mich
nicht an, verabschiedet sich nicht.
Vertan die Chance,
meine Sichtweise zu erklären. Und so bleibt die Aussage im Raume stehen, dass
Lehrer immer ungerecht sind. Naja, wir sind es gewöhnt, die Bösen zu sein.
(Foto: Gotha)
In Soziologie haben wir gelernt, dass es tatsächlich Statistiken gibt, die dieses Auswahlverhalten belegen. Dass also beispielsweise bei gleichen Noten ein Kind aus einer gutverdienenden (intakten) deutschen Familie eher eine Gymnasialempfehlung bekommt als das Kind einer alleinerziehenden Spätaussiedlerin, die als Putzfrau arbeitet.
AntwortenLöschenIch glaube, dass die meisten Lehrer gute Gründe haben für die Empfehlungen, die sie ausstellen. Aber ich glaube auch, dass manchmal die eigentlichen Probleme und Chancen beim Erteilen von Empfehlungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Aber na ja, im Nachhinein kann man sich immer gut den Kopf drüber zerbrechen, ob man etwas anders/besser hätte machen sollen. Vergossene Milch und so.